Was ist Neuroplastizität?
Lange Zeit glaubte man, die Entwicklung des Gehirns sei nach der Kindheit abgeschlossen und das Gehirn wäre danach ein unveränderlich vernetztes Organ mit einer bestimmten Anzahl von Nervenzellen und fixen Verbindungen. Aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse weiß man heute jedoch, dass diese Theorie falsch war und dass das Gehirn sich auch im späteren Leben noch jeder Zeit gezielt verändern lässt. Diese Anpassungsfähigkeit und Veränderbarkeit des Gehirns wird als Neuroplastizität bezeichnet.
Entdeckung der Neuroplastizität
Michael Merzenich hat 1993 durch eine Untersuchung mit Affen die Neuroplastizität entdeckt. Er konnte nachweisen, dass ein sensibler Nerv, der wiederholt auf die gleiche Weise gereizt wird, im Hirn ein zunehmend größeres Areal einnimmt. Bei einem so entstehenden Lernvorgang stellt das Gehirn einer oft wiederholten Tätigkeit immer mehr Hirngewebe zur Verfügung. Merzenich stellte bei seinen Untersuchungen ebenfalls fest, dass bei Verlust eines Nervs andere benachbarte Nerven dessen Funktion übernehmen. Die Schlussfolgerung aus den Untersuchungen Merzenichs ist, dass sich das Gehirn mitsamt seinen Hirnarealen, Synapsen und Nervenzellen zu jeder Lebenszeit mit gezielten Maßnahmen ändern lässt.
Wie funktioniert Neuroplastizität?
Der Vorgang der Neuroplastizität ist mit einem Straßensystem vergleichbar. Feuern zwei Neurone gleichzeitig, so werden sie mit der Zeit leichter erregbar und feuern stärker. So werden im Gehirn „Straßen“ gebaut. Je öfter diese „Straßen“ durch Wiederholung derselben Tätigkeit benutzt werden, desto größer und schneller werden sie. Sie werden zu „Autobahnen“. Man übt sozusagen so lange bis der Schuh passt, dann kann man schneller laufen.
Die Grundlagen für die Neuroplastizität liegen in der Kindheit. Säuglinge haben etwa die doppelt so viele Neuronen wie Erwachsene. Bis zum dritten Lebensjahr entwickeln sie Tausende von Verknüpfungen und bis zum vierten Lebensjahr verlieren sie etwa die Hälfte der Neuronen. Je mehr Erfahrungen Kinder in den ersten drei Jahren machen und je mehr positiven Reizen sie ausgesetzt sind, desto mehr Verknüpfungen werden im Hirn hergestellt.
Anwendungen in Medizin und Therapie
Neurologie
Bei einem Schlaganfall werden Teile des Gehirns geschädigt und es kommt oft zu einer einseitigen Lähmung. Durch verschiedene Studien konnte nachgewiesen werden, dass sich bei Patienten mit einer Armlähmung die Armfunktion nach nur zwei Wochen erheblich verbessert, wenn der betroffenen Arm täglich für mehrere Stunden trainiert wird. Selbst nach einem Schlaganfall sind die Nervenzellen regenerierbar. Nur bei sehr starker Schädigung können die Nervenzellen nicht mehr regeneriert werden. Es ist aber immer noch möglich, dass andere Hirnregionen die verlorene Funktion übernehmen. Fortschritte sind auch noch möglich, wenn der Schlaganfall schon längere Zeit zurückliegt. Das Verfahren der Neuroplastizität kann auch bei Aphasien, kognitiven Beeinträchtigungen und anderen neurologischen Störungen angewandt werden.
Psychiatrie
Für die Psychiatrie war die Entdeckung der Neuroplastizität von größter Bedeutung. Bei einer psychiatrischen Therapie geht es darum, fehlerhafte Verknüpfungen zu lösen und durch neue gesunde Verhaltensmuster zu ersetzen. Bei jüngeren Studien stellte man fest, dass sogar ein ausschließlich mentaler Vorgang bedeutende Veränderungen im Gehirn verursacht. Der Geist kann ebenso trainiert werden wie der Körper. Dies geschieht durch mentales Training, neue Denkmuster und Meditation.